Musings

Erlebnisse, Gedanken und Fundstücke

Als Lehrjahre noch Wanderjahre waren

Aus einer 1925 selbst verfassten “Familienchronik” (Rechtschreibung wie im Original):

“Josef S. geb. am 20. Febr. 1883.
An Ostern 1889 in die Volksschule zu Oberkirch bis 1897, 1896 erste hl. Komunion, 1898 in die Lehre zum Wagnermeister Fischer in Oberkirch, im März 1901 in die Fremde zunächst nach Karlsruhe, an Pfingsten 1901 auf Wanderschaft über Germersheim, Speier, Heidelberg nach Mannheim. Im März 1902 wieder auf Wanderschaft über Kniebis, Stuttgart, Geislingen, Ulm, Augsburg nach München, von hier nach Starnberg, Weilheim, Murnau, Garmisch. Tiroler Grenze, Walchensee, Kochelsee, Tegernsee, nach kurzer Arbeit nach Miesbach, Aibling, Rosenheim, Traunstein, Salzburg, von hier durch das Salzkammergut über Ischl nach Gmunden, Wels nach Linz. Nach kurzer Arbeit mit dem Floß auf der Donau nach Wien. Nach drei Wochen mittels Dampfer wieder nach Linz, von hier zu Fuß nach Passau und Straubing, hier gearbeitet bis März 1903, hier wurde ich ausgehoben zum 1. Jägerbataillon, ging zu Fuß nach München über Landshut, arbeitete dort bis zum Okt. und rückte am 26.11.1903 zum 1. Jägerbataillon nach Straubing ein.”

Die Wanderschaft für Gesellen ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar nicht mehr zwingend vorgeschrieben, wird aber nach wie vor von vielen jungen Männern genutzt, um “die Welt” kennenzulernen.

Für den Bauernsohn Josef aus dem Badischen Oberkirch, jüngstes von sieben Kindern, ist die Wanderschaft nicht nur eine aufregende Sache, sondern wirtschaftliche Notwendigkeit. Den väterlichen Hof übernimmt der 14 Jahre ältere Bruder, der selber gerade dabei ist, eine Familie zu gründen, die Geschwister verlassen die Badische Heimat, eine Schwester geht ins Kloster.

Josef zieht es ebenfalls hinaus “in die Fremde”, und seine Wanderschaft führt ihn letztendlich bis nach Wien, was für einen jungen Burschen aus einer Badischen Kleinstadt – Oberkirch hatte im Jahr 1900 ca. 3.200 Einwohner – einer halben Weltreise gleichgekommen sein muss.

Auf der folgenden Karte kann man Josefs Wanderungen nachvollziehen:

Die grünen Punkte markieren die Stationen seines ersten Wanderjahres 1901, die orangenen Punkte das Jahr 1902 und die gelben Punkte das Jahr 1903 (der rote Punkt markiert Oberkirch in Baden).
Rechts unten über das Plus-Zeichen kann man die Karte vergrößern. Beim Klick auf die einzelnen Punkte erscheinen weitere Informationen.
Hinweis: Die Buchstaben an den einzelnen Stationen bedeuten nichts, die sind eine Eigenheit der Google-Kartenfunktion…

Ungefähr zurückgelegte Kilometer:
1901: ca. 275 km
1902: ca. 1.350 km (inkl. ca. 410 km auf der Donau von Linz nach Wien und zurück)
1903: ca. 250 km (Straubing-München und zurück)
Gesamt: ca. 1.875 km

Nach Ableistung seines Militärdienstes wird Josef zunächst als Berufssoldat beim 1. Königlich Bayerischen Jägerbataillon in Straubing bleiben.
1906 werden die “Einserjäger” nach Freising verlegt, wo Josef seine zukünftige Frau kennenlernen und 1913 heiraten wird.
Mit Urkunde vom 16.12.1915 wird Josef die Staatsangehörigkeit im Königreich Bayern durch Aufnahme erhalten.
Josef bleibt bis zur Auflösung des Regiments 1920 begeisterter “Einserjäger” und erlangt den Rang eines Offiziersstellvertreters.

PS: Josef S. war mein Urgroßvater.

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