Musings

Erlebnisse, Gedanken und Fundstücke

Goldener November in den Gärten der Welt

Wir haben am vergangenen Wochenende das traumhafte Herbstwetter genutzt und einen Ausflug in die “Gärten der Welt” nach Marzahn gemacht. Die Eindrücke müssen wahrscheinlich eine Weile halten…

Fruchtbare Erde

Goldener Herbst

Gärten der Welt - Seouler Garten

Blätter

Bach

Gärten der Welt - Japanischer Garten

Gärten der Welt - Japanischer Garten

Buchstaben

Wortkäfig

Light

Leuchten

Gärten der Welt - Chinesischer Garten

Schwan

Gärten der Welt - Chinesischer Garten

Wasserspiele

Fin

Bei Klick auf ein Bild gelangen Sie zu meinem Flickr-Account – dort gibt es noch mehr Fotos… ;-)

Lesetipp: Was Geheimdienste aus den Metadaten unserer Handys über uns erfahren

Ein Niederländer teilt eine Woche lang öffentlich die Metadaten seines Handys.

Metadaten sind nicht der tatsächliche Inhalt der Kommunikation, sondern die Daten über die Kommunikation; etwa die Nummern, die er anruft oder antextet, und wo sein Handy sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet. Wem er E-Mails schreibt, die Betreffzeilen der E-Mails und die Webseiten, die er besucht.

Ein Forschungdteam der Universität Gent analysierte die Daten und erstellte daraus ein erschreckend genaues Profil des jungen Mannes – und seines sozialen Umfelds.

Jedes Mal, wenn Tons Telefon eine Verbindung mit einem Funkturm herstellte und jedes Mal, wenn er eine E-Mail schrieb oder eine Website besucht, konnten wir sehen, wann dies geschah und wo er in diesem Moment war, bis auf wenige Meter genau. Wir waren in der Lage, basierend auf seinem Telefon- und E-Mail-Verkehr, sein soziales Netzwerk zu erkennen. Über seine Browser-Daten konnten wir auch die Websites, die er besuchte, und seine Suchanfragen zu sehen. Und wir konnten das Thema, den Absender und Empfänger jeder seiner E-Mails sehen.

Mit Hilfe der so ermittelten Daten konnten durch Verknüpfungen mit anderen Datenbeständen sogar Passwörter von Online-Diensten und Mailkonten entschlüsselt werden und so auf hochsensible Daten zugegriffen werden.

Was sie und ich für diesen Artikel getan haben, ist Kinderkram, im Vergleich zu dem, was Geheimdienste tun könnten. Wir konzentrierten uns vor allem auf die Metadaten, die wir mit gängiger Software analysierten. Wir verzichteten auf zusätzliche Recherchen (…).
Außerdem war dieses Experiment auf eine Woche beschränkt. Einem Geheimdienst stehen Metadaten über viel mehr Menschen, über einen viel längeren Zeitraum, und dazu viel ausgefeilteren Analyse-Tools zur Verfügung.

Lesetipp: Metadaten: Wie dein unschuldiges Smartphone fast dein ganzes Leben an den Geheimdienst übermittelt (netzpolitik.org)

Charity: Genauer hinsehen

Quergedachtes schreibt zum Thema Das Geschäft mit der Angst:

Seit vielen Jahren ist es in Mode das reiche und prominente Menschen sich in „Charity“ üben. Es wird Geld gesammelt. Für die dritte Welt, für kranke Kinder, für eine bessere Welt und ja auch für Autismus. Nicht dass man mich falsch versteht: Sich für Menschen einzusetzen denen es nicht gut geht ist eine gute Sache. Aber eben auch nur solange es den Menschen zu Gute kommt.

Beim Thema Autismus bin ich mir da definitiv nicht sicher. Schauen wir mal nach Amerika, dem Mekka des Autismus Charity. Dort gibt es eine „Non Profit Organisation“ namens Autism Speaks. Die sammeln eine Menge Geld im Namen des Autismus ein. Klingt gut? Nun für viele Unternehmen die Autism Speaks unterstützen scheint das so zu sein. So kommen dann in einem Jahr schon mal mehr als 60 Millionen US Dollar zusammen. Und was passiert damit?

Da gehen ganze 4% in die Förderung von Autisten, 46% verschwinden in der Verwaltung, Werbung und dem Aufwand Geld zu sammeln. Weitere 44% fließen in die Genomforschung.

Betrachtet man sich diese Zahlen kann einem schon schwarz vor Augen werden. 46% der Spendengelder schluckt der Verwaltungsapparat Autism Speaks. Vom Rest kommen rund 8% den Autisten direkt zu Gute, fast 90% dessen was übrig bleibt fließt in die Forschung. Gut? Nein!

Was er in seinem äußerst lesenswerten Beitrag am Beispiel Autismus-”Wohltätigkeit” argumentiert, gilt natürlich für alle Bereiche des Spendensammelns.

Wir alle sollten genauer hinsehen, wenn wieder jemand mit der Sammelbüchse klappert, dem Überweisungsträger winkt oder von jedem verkauften Produkt 0,01% in ein “wohltätiges” Projekt zu stecken verspricht:

  • Wer steckt dahinter?
  • Was wird mit dem Geld gemacht?
  • Wem kommt das Geld (letztendlich) zugute?
  • Wozu dient mit Spendengeldern finanzierte Forschung?
  • Will ich das wirklich mit meinem Geld unterstützen? Auch wenn es nur ein paar Cent sind?

Und das gilt eben nicht nur für die “betrügerischen” Spendensammler, die das Geld in die eigene Tasche stecken, sondern auch – und gerade! – den großen, etablierten Sammelaktionen, die oft mit prominenter Unterstützung daherkommen, sollte man genau auf die Finger schauen.

Seriöse Institutionen/Aktionen veröffentlichen Rechenschaftsberichte. Es kann nicht schaden, dort mal einen Blick hineinzuwerfen und auch hier genau hinzuschauen: 44% der Spendengelder für die Forschung, wie Aleksander am Beispiel ” Autism Speaks” aufführt, klingen erstmal gut. Schaut man dann genauer hin, wird deutlich, dass das Geld im Grunde verwendet wird, um pränatale Gentests zur “Früherkennung” von Autismus zu entwickeln, also letztendlich Autismus “abzuschaffen”. Ist das wirklich eine Hilfe im Sinne der hier und jetzt Betroffenen und ihrer Angehörigen, Freunde und ihres sozialen Umfelds? Wissen die Spender, dass ihr Geld nicht als Hilfe für jetzt lebende Menschen verwendet wird, sondern um künftig die Geburt “solcher” Menschen zu verhindern?

Mir selber ist es im letzten Jahr passiert, dass mich junge Frauen aus einem nahöstlichen Land (das ich jetzt bewusst nicht nenne, um nicht wieder bestimmte Vorurteile zu bedienen) auf der Straße angesprochen und um (finanzielle) Hilfe gebeten haben. Es ging angeblich darum, einen Menschenrechtsanwalt zu finanzieren, der in dem betreffenden Land inhaftierte Bürgerrechtler freibekommen sollte. Sie hatten sogar einen Zettel vorbereitet, auf dem Namen der Inhaftierten und ein Statement des zu beauftragenden Anwalts (einem sehr renommierten Herrn) abgedruckt waren.

Da ich bei solchen Dingen immer etwas skeptisch bin, aber im Prinzip willig war, das Anliegen zu unterstützen, nahm ich mir den Zettel mit. Eine wirklich sehr kurze Internetrecherche hat ergeben, dass zum Einen der betreffende Anwalt die aufgeführten Äußerungen in einem völlig anderen Zusammenhang gemacht hatte und eine Beauftragung durch die Organisation wohl abgelehnt hätte, und dass zum Anderen die inhaftierten “Bürgerrechtler” tatsächlich Angehörige einer extrem rechten und regierungsfeindlichen Organisation waren, die für zahlreiche Terroranschläge und die Destabilisierung des Landes mit verantwortlich waren.

Im Nachhinein bin ich äußerst froh, den wirklich netten Frauen mein Geld nicht gegeben zu haben. Obwohl sie keine Betrügerinnen waren (in ihrem Weltbild mögen sie sich durchaus als “Bürgerrechtler” verstehen), war es richtig, genauer hinzusehen.

Ich kann das nur jedem empfehlen, der kein Geld zu verschenken hat und möchte, dass seine Spende wirklich in seinem Sinne verwendet wird.
Eine Recherche ist heute doch wirklich schnell und einfach zu erledigen, und jeder seriöse Spendensammler gibt einem gerne eine Bankverbindung für die spätere Überweisung von zu Hause aus mit.

Mach’s gut, Hilde!

Sie werden kommen, die Stimmen: “Wie alt war sie denn? 95?! Na, das ist aber ein gesegnetes Alter!”

Darin schwingt mit: “Na, dann wird es aber doch mal Zeit! Was stellst Du Dich an? War doch zu erwarten, dass sie bald stirbt. Was soll’s. Hat doch lange genug gelebt. Viel schlimmer ist es doch, wenn junge Menschen sterben. Meine Tante zum Beispiel…”

Ich werde versuchen, diesen Stimmen nicht zuzuhören. Und ich werde dem Mann raten, dasselbe zu tun.

Denn es ist immer schlimm, wenn jemand stirbt, den man lieb gehabt hat. Egal, wie alt der war. Egal, ob damit zu rechnen war. Egal, ob derjenige sein Leben gelebt hat.

Schließlich hat jeder, der stirbt “sein” Leben gelebt. Wessen denn sonst?

Hilde hat ihres gelebt. Mit allen Höhen und Tiefen.

Mit ihren zwei jüngeren Geschwistern, der geliebten Schwester, mit der sie zeitlebens durch dick und dünn gegangen ist und auf die sie aufgepasst hat, damals im Krieg, und auch später. Und dem Bruder, der schon als Kind immer “in Schwierigkeiten” kam. Nichts Schlimmes, aber er hat eben oft Ärger bekommen. Weil er nicht den Mund gehalten hat. Weil er stur war. Seinen eigenen Kopf hatte.

Aber den hatte Hilde auch, ihren eigenen Kopf. Musste sie auch, als ältestes von drei Geschwistern und nach dem frühen Tod des Vaters, der ein Geschäft hatte, in Xanten, nach dem 1. Weltkrieg. Ein Kolonialwarenladen war es, und die kleine Hilde war fasziniert von all den Köstlichkeiten, mit denen ihre Familie ganz selbstverständlich zu tun hatte und die für andere Kinder märchenhaft erscheinen mussten.
Zeitlebens schwärmte sie von den frischen Früchten und von den besonderen (und teuren) Zigaretten, die der Vater rauchte, trotz seiner Lungenkrankheit.

Vorübergehend zu einer Tante nach Brühl verfrachtet, ziehen Hilde und die Schwester schließlich mit der Mutter nach Koblenz. Die Mädchen machen eine Lehre, und Hilde bekommt eine Stellung “im Amt” als Sekretärin. Das bringt Vorteile. Lebensmittelzuteilungen, Sonderrationen, später den Platz im Luftschutzkeller.

Dann der Krieg. Ausgebombt, umgesiedelt, später die Rückkehr ins zerstörte Koblenz, der Neuanfang. Und immer war sie diejenige, die gestohlen und gehandelt und getrickst hat, um die Mutter und Schwester durch die schwere Zeit zu bringen. Sie war nicht zimperlich, durfte es auch nicht sein. “Die wären ohne mich verhungert”, sollte sie später oft sagen, und vermutlich hat sie Recht damit.

Aber sie hat auch immer das Leben in vollen Zügen genossen. War vor dem Krieg jedes Wochenende tanzen mit ihrer Schwester, mit Freundinnen und Kolleginnen.
Auch nach dem Krieg ging sie gerne aus. Tanzen vor allem. Auch wenn kein Geld da war, sich Getränke zu kaufen und man mehrere Kilometer nach Hause laufen musste, weil kein Bus mehr fuhr.
Egal. Spaß haben! Das Leben genießen!

Und sie fiel auf. Klein und zierlich, dabei sprühend vor Lebenslust und mit einem frechen Mundwerk gesegnet, hatte sie keine Probleme, Tanzpartner und Verehrer zu finden.

Mit einem von ihnen, mit Rudi, war es besonders. Beim Tanzen hatte sie ihn kennengelernt, wo sonst. Sie mit ihrer Schwester und Rudi mit seinem Kumpel. Sie gefielen sich, Hilde und Rudi, und so gingen sie fortan zusammen aus, unternahmen Ausflüge auf Rudis Motorrad, den Rhein entlang und die Mosel.

Rudi hatte selbst eine schwere Zeit hinter sich. Er war in Kriegsgefangenschaft in Russland, und kam erst sehr spät zurück nach Deutschland. Aber in seine Heimatstadt Stettin konnte er nicht zurückkehren, stattdessen ging er zu seinen Eltern, die nach vielen Wirren in einem kleinen Ort an der Mosel gelandet waren, nicht weit von Koblenz.

So hatten sie sich also gefunden, zwei junge Leute, die den Krieg vergessen wollten, die das Leben genießen und vorwärtsschauen wollten.
Sie heirateten, die Tochter wurde geboren, und sie lebten in einer kleinen Wohnung, eher einem Zimmer, und waren glücklich.

Rudi arbeitete als Vertreter für Papierwaren. Schreibpapier, Einwickelpapier, die Brötchentüten beim Bäcker – er versorgte Geschäfte, Hotels und Betriebe mit allem, was sie brauchten.
Manchmal fuhr Hilde mit, manchmal musste sie ihn auch vertreten, wenn er krank war. Ausfallzeiten gab es nicht, dann hätte sich jemand anderes den Kunden geschnappt, denn die Konkurrenz war hart. Alle mussten sehen, wie sie Geld verdienen.

Aber Hilde hatte Geschäftssinn, das hatte sie ihm Krieg bewiesen. Und sie konnte auf Menschen zugehen, selbst wenn sie sich noch im hohen Alter über den “unverständlichen” Dialekt mancher Alteingesessener in Eifel oder Hunsrück mokierte.

Schließlich konnten sie in der Innenstadt von Koblenz ein kleines Schreibwarengeschäft übernehmen. Die Anzahlung für ein neu errichtetes Reihenendhaus in einem Koblenzer Vorort leisten und das Motorrad durch einen VW Käfer ersetzen. Es ging bergauf.

Als der Sohn geboren wird, ist Hilde bereits 40 Jahre alt, beinahe 41. Sie freuen sich über den Nachzügler, den “Stammhalter”, aber Hilde bekommt gesundheitliche Probleme und muss lange nach der Geburt im Krankenhaus bleiben.
So verbringt der Kleine sein erstes Lebensjahr bei Hildes Schwester und deren Familie. Noch sehr lange in seinem Leben werden Onkel und Tante wichtige Bezugspersonen des Jungen bleiben, und zeitlebens verbindet ihn eine enge Freundschaft mit Cousin und Cousine, ein “Nachzügler” wie er selbst.

Als Hilde aus dem Krankenhaus kommt, wird das neue Häuschen bezogen, kurz vor Weihnachten im Jahr 1960.

Genau 53 Jahre wird Hilde in diesem Haus verbringen, es ist ihr ganzer Stolz. Bis zuletzt ist sie stolz darauf “alles in Ordnung” zu halten, jeden Tag die Treppen hoch und runter, die Wäsche selbst zu machen und das Haus sauber zu halten. Nur für die schweren Arbeiten nimmt sie sich irgendwann eine Putzhilfe, für das Fensterputzen und Staubsaugen und Bettenbeziehen. Aber noch mit 94 geht sie jeden Tag durchs Haus und wischt Staub, wäscht ihre Wäsche und spült das Geschirr.

Rudi ist glücklich, er hat erreicht, was er wollte: eine Arbeit, eine Familie mit Sohn und Tochter, ein Haus mit Garten, ein Auto.
Hilde ist nicht ganz so zufrieden, ihr ist das Leben hier zu ruhig. Es ist “nichts los”, die Dörfler sind ihr zu “primitiv”, das Dasein als Hausfrau und Mutter ist ihr zu langweilig.

Dann wird Rudi krank. Krebs. Krankenhausaufenthalte, eine langwierige und schmerzhafte Behandlung, schließlich der Tod.

Hilde bleibt zurück, fast 50 Jahre alt, das Haus nicht abbezahlt, zwei Kinder.
Sie geht wieder arbeiten, die Tochter muss eine Lehre machen, bei der Bank, der Junge wird tagsüber von der Großmutter betreut, die in die Nähe gezogen ist.
Es ist eine harte Zeit für alle drei, aber Hilde beißt sich durch, wie sie es immer getan hat.

Sie wird hart dabei, ihr Dickkopf entwickelt sich zu einer teilweise unnachgiebigen Sturheit, sie wird rechthaberisch. Unbewältigte Trauer, Druck, Angst, Verzweiflung, Depression. Ihre Art, mit den Dingen fertig zu werden. Sie muss ja. Darunter leidet vor allem der Sohn, obwohl er die Zeit bei seiner Oma auch genießt. Aber er bleibt allein. Allein mit der Trauer um den Vater, allein mit den Bedürfnissen eines kleinen Jungen, für den jetzt niemand mehr Zeit oder Verständnis hat.

Hilde wird das später sehr bedauern, weiß, dass sie ihren Kindern, vor allem dem Jungen viel zugemutet hat. Aber zu dieser Zeit muss sie funktionieren und weiß doch selber nicht, wohin mit ihrer Trauer.

Aber die Arbeit im Büro gefällt ihr auch. Sie hat wieder Kontakt zu Menschen, kommt aus dem “Dorf” heraus, wird von ihrem Chef geschätzt. Es tut ihr gut, die Anerkennung für ihre Arbeit, die Wertschätzung als Mensch, als Frau.

Als sie den Mann kennenlernt, der lange in Argentinien gelebt hat, muss ihr das wie ein zweiter Frühling vorgekommen sein. Endlich wieder leben, Spaß haben, ausgehen, reisen! Und was für Reisen! Die Tochter des Mannes ist Reiseleiterin und so besuchen sie gemeinsam u.a. Spanien und Guatemala.

Aber das Glück ist getrübt. Der Sohn des Mannes ist depressiv und unternimmt mehrere Selbstmordversuche. Hilde und der Mann gehen immer öfter feiern, trinken viel, dann kommt es zu Streit und Auseinandersetzungen. Schließlich erkrankt der Mann an Krebs, stirbt. Und Hilde ist wieder allein.

Die Kinder sind aus dem Haus. Die Tochter hat geheiratet und ist weggezogen, der Sohn macht eine Lehre und geht schließlich nach Berlin, nachdem seine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht anerkannt wird. Zivildienst gibt es da noch nicht. Sein Verhältnis zur Mutter ist schlecht in dieser Zeit, zu viel ist geschehen, und sie werden Jahre brauchen, sich wieder anzunähern.

Hilde arbeitet bis zur Rente. Das Haus ist irgendwann abbezahlt, sie hat keine großen materiellen Bedürfnisse, alles Geld geht ins Haus, aber sie kommt mit ihrer Rente gut hin. Der Obst- und Gemüsegarten früherer Jahre weicht einem Ziergarten, sie hat sich eingelebt im “Dorf”, auch wenn es ihr manchmal zu ruhig ist. Auch verreisen tut sie noch gerne, besucht die Familie der Tochter im Taunus und später in Bayern, den Sohn in Berlin, verreist mit den Kindern und Enkeln nach Belgien, nach Frankreich, nach Italien.

Auch Busreisen unternimmt sie, und dabei lernt sie die letzte Liebe ihres Lebens kennen, einen Witwer aus einem Nachbarort von Koblenz. Er stammt aus dem Hunsrück und gemeinsam unternehmen sie viele Ausflüge in die Umgebung von Koblenz, in die Eifel, den Hunsrück, den Taunus, ins Rhein- und Moseltal.

Er liebt die Natur, sie möchte dorthin, wo “etwas los ist”, wo es “etwas zu sehen” gibt. Einsame Wälder, weite Felder sind ihr ein Gräuel. Wie langweilig!
Manchmal setzt er sich durch, und sie machen ein Picknick an irgendeinem schönen Fleckchen, meist “gewinnt” sie, und sie spazieren eine Rheinpromenade entlang oder essen in einem kleinen Hotel an der Mosel zu Mittag.

Er zieht zu ihr, womit seine Kinder zunächst ein Problem haben, aber das kümmert die beiden nicht, es ist schließlich ihr Leben.
Für ihn ist es ein Glück, denn Hilde kümmert sich gut um ihn, als er schließlich an Alzheimer erkrankt und immer mehr Pflege braucht.
Als er stirbt, schmerzen die gehässigen, neidischen Worte einer Nachbarin sie sehr: “Na, Sie haben ja einen Verschleiß an Männern…!” Keine Frage, dass sie das der Frau noch Jahre später nicht verzeiht.

Es wird einsam um Hilde. Die Schwester stirbt, der Schwager, eine ehemalige Kollegin und Freundin, dann der Bruder und zuletzt die Jugendfreundin, ebenfalls eine Hilde. Das ist der Fluch, wenn man so alt wird, dass alle vor einem sterben und man allein zurückbleibt.
Die Nachbarinnen sterben oder kommen ins Pflegeheim, junge Familien ziehen ein, mit denen stellt sich Hilde zwar gut, aber die leben ihr eigenes Leben.

Eine Frau, die 10 Jahre jünger ist als Hilde zieht von Trier hierher in die Nähe ihrer Tochter, mit ihr freundet sich Hilde etwas an. Sie treffen sich nachmittags bei Hilde, trinken “ein Piccolöchen” zusammen, schauen fern, tauschen Klatsch und Tratsch aus. Auch mit dem anderen Nachbarn, dem Feuerwehrmann und seiner Frau hält Hilde gern mal ein Schwätzchen. Sie haben ein Auge auf sie, kümmern sich um das Haus, wenn Hilde die Tochter besucht oder mit ihr und dem Schwiegersohn in Urlaub fährt.

Nach wie vor ist es Hilde zu langweilig im “Dorf”, sie wünscht sich, es wäre mehr “los” in ihrem Leben. Sie genießt es zwar, im Sommer in ihrem Garten zu sitzen, entweder hinten auf der Terrasse oder an ihrem Sitzplatz vor dem Haus, aber sie freut sich immer, wenn jemand mit ihr mit dem Auto in die Stadt fährt oder einen Ausflug unternimmt.
Und die Reisen mit der Tochter und dem Schwiegersohn! Nach Italien, nach Korsika, nach Kroatien, nach Österreich. In die Sonne, in den Süden, in schöne Hotels. Das ist ihre Welt. das Leben genießen!

Und sie genießt das Leben, auch wenn sie krank ist. Der hohe Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, Schmerzen im Knie, im hohen Alter ein gebrochenes Handgelenk, der Nierenstein, die OP mit über 90 Jahren. Sie beißt sich durch. Schluckt ihre Unmengen von Tabletten, misst brav jeden Tag den Blutdruck, geht regelmäßig zum Arzt zum Quick-Test, benutzt einen Rollator als die Schmerzen beim Gehen immer schlimmer werden, schluckt Antibiotika, wenn der chronische Harnwegsinfekt wieder unerträglich wird, erträgt die Nebenwirkungen, wenn sich neue Mittel nicht mit ihren Herzmedikamenten vertragen, verzichtet schließlich sogar auf ihren geliebten Wacholder und die Sektchen, weil sich der Alkohol mit bestimmten Medikamenten nicht verträgt.

Aber sie jammert nicht, sondern macht das Beste daraus. Schleppt den Rollator zu allen Ausflügen mit, um wenigstens mal wieder ein paar Meter am Rhein entlang zu gehen. Fährt zur Nierenstein-OP nach Bayern als die Ärzte im Koblenzer Krankenhaus sie wegen ihres Alters nicht durchführen wollen. Entscheidet sich über Ostern noch zur Dialyse, die ihr zeitlebens ein Horror war, nachdem sie bei der Schwägerin beobachtet hatte, wie schlecht es einem damit gehen kann.

Sie ist ein Kämpfer. War sie immer. Musste sie ja sein. Hilft ja nichts. Aufgeben? Kommt nicht in Frage.

Noch Anfang des Jahres bescheinigt ihr ein Arzt, “im Prinzip” könne sie 100 Jahre alt werden. Sicher hat er ihr da eher geschmeichelt, denn ihr ging es schon sehr schlecht, aber ich glaube, das wäre sie gerne geworden. Hundert. Allein um sagen zu können “Kannst Du Dir das vorstellen? Hundert Jahre! Du lieber Gott, wer hätte das gedacht…!” Halb entsetzt, halb stolz hätte sie das gesagt. Aber der Stolz hätte bei weitem überwogen.
Und wer wollte es ihr verdenken? Man hat doch nur das eine Leben!

Und die, die denken, 95 Jahre seien genug, die haben doch keine Ahnung!

Mach’s gut Hilde, ich werde Dich sehr vermissen.

Hilde mit Rhododendron im Garten

Hilde im Mai 2013 in ihrem Garten | 23.12.1918 – 26.4.2014

 

Wintersonne

Impressionen von einem Spaziergang auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof Mitte Januar 2014:

Klohäuschen auf dem Tempelhofer Feld

Drachen steigen lassen

Die Natur erobert das Flugfeld zurück

Müllbehälter auf dem Tempelhofer Feld

Baum im Gegenlicht

Drachen vor grauen Wolken

Tempelhofer Freiheit